Essay von David Rosen: "Extremismus bekämpfen und den Frieden fördern"
Wenn Religionen für Frieden stehen, wie kann es dann zu Gewalt im Namen von Religionen kommen? In seinem Essay gibt David Rosen eine Erklärung. Woran er auch gedacht hat: eine mögliche Lösung.
In seiner Botschaft zum Weltfriedenstag 2002 bezeichnete Seine Heiligkeit Johannes Paul II. „das ehrliche religiöse Empfinden“ als „das wichtigste Gegenmittel gegen Gewalt und Konflikte“. Die meisten gläubigen Menschen würden diese Auffassung sicherlich teilen. Schließlich sind Frieden, Eintracht und das Wohlergehen aller Menschen erklärte Ziele aller Religionen. Unübersehbar ist aber auch, dass im Namen der Religion nicht nur entsetzliche Gewalt verübt wurde, sondern dass es bis heute in verschiedenen Teilen der Welt viele Menschen gibt, die tatsächlich glauben, Konflikte und Gewalt gegen Andersdenkende seien das, was ihre Religion von ihnen verlangt.
Um diesen Missbrauch des Glaubens in den Griff zu bekommen, müssen wir uns mit der Frage auseinandersetzen, warum Religionen allzu oft eben gerade nicht die Rolle spielen, die sie spielen sollten – vor allem in den Konfliktzonen unserer Welt. Warum verschärfen religiöse Bindungen Konflikte offenbar so häufig, statt zu ihrer Lösung beizutragen und Frieden und Versöhnung zu fördern, die doch angeblich ihr ureigenes Metier sind?
Renommierte Sozialwissenschaftler unterscheiden bei Religionen drei Dimensionen: Glaube, Verhalten und Zugehörigkeit. Verschiedene Religionen können diese drei Dimensionen unterschiedlich kombinieren oder gewichten. Ihr Missbrauch ist oft mit den ersten beiden verbunden: Immer wieder rufen Streitigkeiten über religiöse Dogmen oder auch Rituale gewaltsame Auseinandersetzungen hervor. Sie dienen immer wieder als Vorwand für Gewalt gegen jene, die nicht dieselben Glaubensüberzeugungen und -praktiken teilen.
Doch hat Gewalt im Namen der Religion besonders in unserer modernen Welt meist weitaus mehr mit der Ebene der „Zugehörigkeit“ zu tun. In ihr spiegeln sich die soziokulturellen, territorialen und politischen Kontexte wider, in denen die Religion wirkt.
Weil Religion darauf zielt, unserem Leben einen Sinn zu geben, ist sie untrennbar mit sämtlichen Kategorien der menschlichen Identität verbunden. Diese reichen von den Beziehungen in der eigenen Familie über die Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft, einer ethnischen Gruppe, einer Nation und einem Volk bis hin zur Sorge um die Menschheit und die Schöpfung als Ganzes. Diese Bestandteile der menschlichen Identität sind die Grund steine unseres seelisch-geistigen Wohlbefindens, und wir verleugnen sie auf unsere eigene Gefahr hin. So wiesen Forscherinnen und Forscher darauf hin, dass Gegenkulturen, Drogenmissbrauch, Gewalt, Sekten und so weiter in hohem Maße eine Suche nach Identität von Menschen widerspiegeln, denen der Kompass im Leben abhanden kam.
Diese Elemente der Identität definieren, wer wir sind – und damit zugleich auch, wer wir nicht sind. Ob Abweichungen und Unterschiede positiv oder negativ wahrgenommen werden, hängt überwiegend von dem Kontext ab, in dem wir uns befinden – oder zu befinden glauben. In konfliktgeladenen Situationen stützt diese Identität oft nicht nur ein positives Gefühl der Zusammengehörigkeit, sondern nährt auch Gefühle von Selbstgerechtigkeit und Herabsetzung „des anderen“.
Die Spirale ist ein, wie ich finde, nützliches Bild, das erklärt, warum bestimmte Identitäten zu positiven oder negativen Verhaltensweisen führen. Wenn sich Menschen in dem Kontext, in dem sie sich befinden, sicher fühlen, können sie sich auf vielerlei Zusammenhänge einlassen: auf der Ebene von Familien, Gemeinschaften oder Nationen. Dann können Religionen zum Gemeinwohl aller beitragen und die menschliche Würde stärken. Fühlen sich Menschen jedoch in ihren jeweiligen Kontexten unbehaglich, dann schneiden sie sich von den umfassenderen Zusammenhängen ab, sie isolieren sich und begegnen anderen mit Unbehagen. Dadurch aber vertiefen sie das Gefühl der Entfremdung.
Weil die Religion so eng mit der Identität verknüpft ist, spielt sie bei der Entwicklung einer Bedrohung (auch einer lediglich gefühlten) eine entscheidende Rolle; in einem konflikthaften Umfeld bietet sie eine Stütze und Beistand. Doch indem sie Menschen vor allem dann, wenn diese sich angreifbar und verunsichert fühlen, ein Bewusstsein des eigenen Wertes und Sinnes vermitteln, verfallen Religionen allzu oft in die erwähnte Selbstgerechtigkeit. Sie missachten die Legitimität der anderen, verschärfen Konflikte und Ausgrenzungen und verraten damit ihre universellen Werte.
Natürlich gibt es Situationen der Notwehr, und viele, wenn nicht die meisten würden argumentieren, dass es manchmal kurzfristig keinen anderen moralischen Ausweg gibt, als Gewalt mit Gewalt zu stoppen. Nichtsdestotrotz lehren alle unsere Religionen, dass dies nicht genügt. In einer alten jüdischen Weisheit heißt es: „Wer ist ein wahrer Held? Jemand, der seinen Feind zum Freund macht.“ (Avot de-Rabbi Nathan, 23).
Die Bekämpfung des religiösen Extremismus verlangt von uns maximale Anstrengungen. Wir müssen den Sumpf der Ausgrenzung trockenlegen, in dem sich der Moskito des Konfliktes vermehrt. Doch wie bereits angedeutet, sind nicht nur materielle und politische Faktoren Auslöser dieser Ausgrenzung. Die mächtigste Ursache liegt wohl in der Entfremdung. Wir werden die Feindseligkeit von Fanatikern, die ihre Gewalttätigkeit in ihrer Religion begründet sehen, nicht ansatzweise verstehen, wenn wir die Macht dieser Entfremdung ignorieren, dieses Gefühls von Herabsetzung und Erniedrigung.
Es ist somit nicht nur essenziell, dass Menschen – vor allem die jungen – ein Leben in materieller und sozialer Würde führen können. Sie müssen auch ein Gefühl von Verbundenheit und Verantwortung erleben – als Individuen und als anerkannte Mitglieder in ihren jeweiligen Gemeinschaften. In dieser Hinsicht kommt den Beziehungen zwischen den Religionen eine entscheidende Rolle zu. Der Wert der Gastfreundschaft hat ja in allen Religionen eine lange Tradition. Die Hand ausstrecken, den anderen willkommen heißen – das gibt Menschen das Gefühl, akzeptiert zu werden. Dann können sie sich als Teil einer höheren Identität fühlen und etwas beitragen, anstatt sich zu entfremden. Tut man dies mit dem nötigen Respekt vor der zentralen spirituellen Identität des anderen, dann hat dieses Bemühen noch größere Wirkung und Bedeutung.
Die interreligiöse Zusammenarbeit spielt somit eine unschätzbare Rolle dabei, Menschen und Gemeinschaften unterschiedlichen Glaubens dazu zu befähigen, ihre eigenen religiösen Identitäten und Zugehörigkeiten zu verstehen. Sie leistet einen konstruktiven Beitrag zur Steigerung des Wohlergehens der Gesellschaft insgesamt.